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Minimalismus: Warum bei Alessia weniger ganz viel mehr ist

Nachhaltig zu leben, hat nichts mit Verzicht zu tun – im Gegenteil. Das eigene Leben materiell zu entrümpeln, setzt Raum und Energie für Neues frei. Zu Besuch bei Alessia Baumgartner, einer jungen Frau, die ihren ganz persönlichen Minimalismus lebt.

Publiziert 26.11.2022 Lesedauer 4 min

Ein unscheinbares Basler Wohnquartier: Alessia Baumgartner öffnet die Tür ihrer 2,5-Zimmer-Wohnung im fünften Stock. «Kommt herein», sagt sie freundlich. Und schon befinden wir uns mitten in einem Raum, der Wohnzimmer und Küche zugleich ist. «Schaut euch ruhig um», sagt Alessia und öffnet die Tür zum Schlafzimmer. «Die meisten wollen meinen Kleiderschrank sehen.» Schrank? Eher eine Kleiderstange mit einigen Kleidungsstücken daran. «Früher konnte ich kaum an einem Modegeschäft vorbeigehen, ohne etwas zu kaufen.» Heute sei das anders, heute kaufe sie viel bewusster ein. Trotzdem ist Alessia keine, die ihre Gegenstände zählt und deren Anzahl streng limitiert, so wie das der Begriff des Minimalismus vermuten lässt. Aber sie lebt nach jenem Prinzip, das den bewussten Verzicht auf übermässigen Konsum proklamiert, um Platz für das Wesentliche zu schaffen. Und das Wesentliche ist in ihrem Fall viel mehr als greifbares Gut. Es geht um äussere und innere Ordnung, um Achtsamkeit und die Essenzen des Daseins.

Entrümpeln schafft Freiraum

Alessias Wohnung ist stylish eingerichtet. Kein Gegenstand ist zu viel, keiner zu wenig. Ob Kerzen, Blumen, etwas Deko, Sofa, Tisch oder Stühle: Jedes Ding hat eine klare Funktion. «Einige Gäste fühlen sich beruhigt, wenn sie meine Wohnung betreten», sagt Alessia. Das leuchtet ein, denn weniger Gegenstände, mehr Ordnung und ein gewisser Mut zur Leere beruhigen Auge und Geist.

Die junge Frau hat vor rund sechs Jahren damit begonnen, unnötige Dinge loszuwerden und sich damit neuen Freiraum zu schaffen. Ausschlaggebend waren wohl Filme über die Textilindustrie und westlich-dekadentes Konsumverhalten, so genau weiss sie es nicht mehr. Während ihres Studiums in Medien- und Kommunikationswissenschaften hat sich die Glarnerin entschieden, ihren überquellenden Kleiderschrank zu entrümpeln. «Einiges habe ich verschenkt, anderes gespendet, getauscht oder auf dem Flohmarkt oder online verkauft.» Sich dieses persönlichen Überflusses zu entledigen, fühle sich «mega erleichternd» an. Früher hatte sie mehrere Wintermäntel, Schals und Mützen. Heute reicht es ihr vollkommen, von allem nur ein Stück zu besitzen. «Ich brauche nichts mehr doppelt oder dreifach. Zudem verzichte ich auf bunte und gemusterte Kleider, sodass sich alles einfacher miteinander kombinieren lässt.»

  

  • Wenige Stücke, gut kombinierbar: Was Kleider betrifft, setzt Alessia Baumgartner auf Qualität und Ordnung.

  • Gemütlich und ruhig: Alessia Baumgartners Einrichtung beruhigt auch Auge und Geist ihrer Gäste.

  • Geordnet und entspannt: Weniger Materielles zu besitzen, schafft mehr geistigen Freiraum.

  • Glücklich und zufrieden: Ihr Lebensstil verhilft Alessia zu einer Ausgeglichenheit, die sie lange nicht kannte.

  • Es ist eine grosse Herausforderung unserer Zeit, sich nicht permanent von äusseren Faktoren beeinflussen zu lassen.

    Alessia Baumgartner

    Minimalistin

  • Es geht um mehr als nur um das Materielle

    Keine Kaffeemaschine, bei Alessia gibt’s Tee. Je vier Gläser, Teller und Tassen im Küchenschrank sind genug. Einkaufen am liebsten unverpackt und frisch: «Das ist geschmacklich kein Vergleich mit den Produkten vom Supermarkt.» Alessia Baumgartners Haltung und Handlungen sind durchaus stringent, aber nicht verbissen. «Ich versuche, bei allem ein gesundes Mass zu finden», sagt sie. «Allzu extreme Ansichten zu vertreten und sich unter Druck zu setzen, bringt nichts.» Ein wichtiger Punkt ist das persönliche Wohlbefinden. «Es ist heutzutage eine grosse Herausforderung, sich nicht permanent von äusseren Faktoren beeinflussen zu lassen.» Werbung, Rabatte, TV, Internet, Smartphone – Ablenkungen gibt es viele. «Mich mit mir zu beschäftigen, erfüllt mich. Achtsam mit Geist und Körper umzugehen, ist mir inzwischen wichtiger als der pure materielle Minimalismus.» Yoga, Meditation, schweigen statt sprechen. «Ich versuche auch auf dieser Ebene herauszufinden, was mir guttut. Diese Reise dauert aber wohl ein Leben lang.» 

    Reduziert, aber ausreichend: In den Küchenschränken von Alessia hat es mehr Platz als nötig.

    Auch der Berufsalltag ist ausgeglichen gestaltet

    Parallel zum privaten Akt des Reduzierens hat Alessia ihre Website lim.one aufgeschaltet. Anfangs schrieb sie im Blog über ihren Alltag, wobei sich Themen wie Nachhaltigkeit und Minimalismus immer stärker herauskristallisierten. Zudem organisierte sie Events und Workshops, um den Austausch unter Gleichgesinnten zu fördern. Später wurde aus der Website eine Plattform für nachhaltige Labels und junge Designerinnen – inklusive Shop. «Da gibt es Dinge zu kaufen, die eben nicht aus einer Massenproduktion stammen.» Zu jener Zeit kam auch die Idee auf, die berufliche Schaffenskraft teilzeitig in den Dienst der Nachhaltigkeit zu stellen. «Seit zwei Jahren unterstütze ich nachhaltige Labels in der Kommunikation.» Eine Herzensangelegenheit und eine Ergänzung zu ihrem Job im Standortmarketing einer Stadt. «Mich interessieren die Geschichten hinter den Labels und den Dingen, die ich vorstelle und empfehle. Dabei geht es um ästhetische und hochwertige Produkte im Fashion-, Accessoire- und Beautybereich.» Einige Eindrücke dazu bekommt man auch auf Alessias Instagram-Account.

    Aufgeräumt und übersichtlich: Wer minimalistisch lebt, beweist einen gewissen Mut zur materiellen Leere.

    Simple Fragen, grosse Wirkung

    Alessia Baumgartner führt ein Leben, das geprägt ist von bewussten Entscheidungen. Andere Lebensstile verurteilt sie trotzdem nicht, denn Toleranz ist ihr wichtig. «Zu missionieren und mein Umfeld von meiner Auffassung zu überzeugen, ist nicht mein Ziel.» Trotzdem trägt sie zur Sensibilisierung der Gesellschaft bei, indem sie umsetzt, wovon andere möglicherweise nur sprechen. «Die Feedbacks sind sehr positiv. Viele Leute spüren, dass ein gewisser Verzicht auch ihnen guttun würde.» Ein Verzicht, der genau genommen gar keiner ist, sondern viel mehr einer Form der Vernunft ähnelt. Denn was Alessia vereinfacht formuliert von vielen anderen Menschen unterscheidet, ist die persönliche Entschlossenheit, nicht am weitverbreiteten Konsumwahn teilzunehmen. Und sich vor dem Kauf von Lebensmitteln oder anderen Dingen drei entscheidende Fragen zu stellen: Brauche ich das wirklich? Woher kommt es? Kann ich nach bestem Wissen und Gewissen hinter diesem Kauf stehen? Im Grunde simple Fragen, mit denen wir uns alle hin und wieder beschäftigen sollten.

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